Studie sucht nach psychologischen Ursachen der Adipositas im Kindesalter
Ist die Adipositas im Kindesalter eine Folge schlechter Erziehung? Eine Studie in JAMA Pediatrics (2018; doi: 10.1001/jamapediatrics.2018.0413) kommt zu dem Ergebnis, dass Knaben, nicht aber unbedingt Mädchen, die im Kleinkindalter eine geringe Selbstregulation zeigten, vor der Einschulung häufiger adipös waren.
Die zunehmende Zahl von fettleibigen Kindern verlangt nach Erklärungen. Eine Antwort, die oft von Laien zu hören ist und manchmal auch von Erziehungswissenschaftlern vertreten wird, lautet, dass die Kinder zu sehr „verwöhnt“ werden und nicht lernen, auch einmal zu „verzichten“. Der wissenschaftliche Begriff dafür ist eine verminderte Selbstregulation.
Unter Selbstregulation verstehen Psychologen grob gesagt die Fähigkeit von Menschen, nicht sofort ihren Impulsen nachzugeben, sondern überlegt zu handeln. Die Selbstregulation lässt sich bereits im Kleinkindalter beurteilen. Die Bayley Scales of Infant Development kennt 4 Kennzeichen: Erstens die Fähigkeit des Kindes, mit Enttäuschungen umzugehen (Frustrationstoleranz), zweitens die Fähigkeit, auf neue Untersuchungsgegenstände im Test einzugehen (Anpassungsfähigkeit), drittens die Ausdauer, mit der Aufgaben gelöst werden (Persistenz) und viertens die Fähigkeit, sich auf eine Sache zu konzentrieren.
Die Selbstregulation wurde von Erziehungswissenschaftlern in der ECLS-B-Studie („Early Childhood Longitudinal Study birth cohort“) an einer repräsentativen Stichprobe von 6.400 Kindern im Alter von im Durchschnitt 24,1 Monaten untersucht. Sarah Anderson von der Ohio State University in Columbus/Ohio und Mitarbeiter haben die Ergebnisse mit dem Body-Mass-Index im Alter von 64,5 Monaten verglichen.
In einem Score, der die 4 Eigenschaften mit 0 bis 5 Punkten bewertet, wobei eine hohe Punktzahl die bessere Selbstregulation anzeigt, erzielten Knaben im Durchschnitt 13,7 Punkte, Mädchen dagegen 14,9 Punkte. Die Mädchen zeigten im Alter von 2 Jahren eine etwas bessere Selbstregulation.
Die erwartete Assoziation zwischen fehlender Selbstregulation und Adipositas war nur bei Knaben nachweisbar. Im Viertel mit der niedrigsten Selbstregulation waren 19,7 % der Knaben adipös, im zweiten Viertel waren es 18,3 %, im dritten Viertel 20,3 % und im vierten Viertel 15,9 %.
Bei den Mädchen gab es dagegen eine U-Kurve: Im Viertel mit der niedrigsten Selbstregulation war der Anteil der Kinder mit Adipositas mit 17,0 % am höchsten, im zweiten Viertel sank der Anteil jedoch auf 10,3 %, im dritten Viertel waren es mit 10,7 % nicht wesentlich mehr, um dann im vierten Viertel der Mädchen mit der höchsten Selbstregulation wieder auf 15,0 % anzusteigen.
Das sind keine Ergebnisse, die die fehlende Selbstregulation als einen wichtigen Risikofaktor für eine spätere Adipositas ausweisen. Tatsächlich ist bereits eine randomisierte Studie, die durch ein Training der Selbstregulation die Adipositas vermeiden wollte, gescheitert. Julie Lumeng und Mitarbeiter von der University of Michigan in Ann Arbor hatten in Vorschulklassen ein Erziehungsprogramm zur Verbesserung der Selbstregulation angeboten. Die Kinder zeigten danach auch ein besseres Verhalten, doch die erhoffte präventive Wirkung auf die Adipositas blieb aus (Pediatrics 2017; 139: e20162047).
Die aktuelle Untersuchung zeigt, dass sich die Adipositas von Kindern nicht einfach auf Charaktereigenschaften zurückführen lässt und dass ein Erziehungsprogrammen zur Lösung des Problems bisher nicht existiert. © rme/aerzteblatt.de
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